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Interdisziplinäre Tagung: „Vom Gewordenen zum Gemachten. Wenn sich die Grenze zwischen Zufall und freier Entscheidung verschiebt - Familienplanung 2.0“
17./18. November 2023 an der FernUniversität in Hagen
(Interdisziplinäres Netzwerk Qualitative Familienforschung; Konzept: Olaf Behrend und Dorett Funcke)
- Plakat Tagung 2023 - „Familienplanung 2.0“ - Netzwerk Qualitative Familienforschung (PDF 624 KB)
- Call for Abstracts - Tagung Netzwerk Qualitative Familienforschung 2023 (PDF 197 KB)
- Ankündigung - Tagung „Familienplanung 2.0“ - Netzwerk Qualitative Familienforschung (PDF 224 KB)
- Abstracts
- Programm (PDF 210 KB)
Gegenstand der interdisziplinären Tagung sind die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin und ihre Folgen für Familien- und Identitätsbildungsprozesse. Anlass für eine Tagung mit diesem Schwerpunkt sind gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung einer Liberalisierung, die das Spektrum an Alternativen für Familiengründungen erweitertet und sozialkonstruktivistischen Perspektiven Raum gibt, die familiäre Bindung und Beziehungen als gesellschaftliches Konstrukt sehen. Enttraditionalisierung und Autonomisierung der Lebenspraxis, infolge dessen normativ gültige Lebensmuster erodieren, aber auch Individualisierungsprozesse, die eine „Verbindung mit jenen Vorgängen ein[gehen], welche die Moderne notorisch bestimmen, nämlich mit Rationalisierung und Ökonomisierung“ (Winkler 2023, i.V.) führen im Handlungsfeld der Nachwuchs(er)zeugung dazu, dass technische Prozesse der Machbarkeit Fragen der sozialen Folgen in den Hintergrund rücken. In der Formel vom „doing family“ (vgl. Jurczyk/Lange/Thiessen 2014) findet dieses am Machen, Planen und Berechnen orientierte Herstellen von Familie seinen modischen Ausdruck.
Ziel dieser Tagung ist es aber keineswegs, konventionelle Eltern-Kind-Konstellationen bzw. der Kernfamilie solche Familien gegenüberzustellen, die mithilfe der Fortpflanzungsmedizin oder/und Biotechnologien (PID) entstanden sind, auch geht es nicht um eine kulturkritische Positionierung und schon gar nicht darum, dem technischen und technologischen Fortschritt im Feld der Reproduktionsmedizin mit einer antiliberalen Haltung zu begegnen. Unser Anliegen ist, über aktuelle Forschungen und Erfahrungen aus dem Bereich der klinischen Praxis für einen kritischen Blick zu sensibilisieren dort, wo „versteckte Risiken und Nebenwirkungen des medizinischen Fortschritts“ (Oelsner/Lehmkuhl 2022, S. 95) gerne ausgeblendet werden, denn „Zweifel sind nicht das Thema der Reproduktionsmedizin“ (ebd., S. 5), und Neuem und Möglichen mit einem „anything goes“ begegnet wird. Befunde aus Wissenschaft und Praxis11 liefern Argumente, um innezuhalten und nach den Bedingungen und Folgen von Technik und Technologien zu fragen, die in lange Zeit Unverfügbares, Naturwüchsiges, Schicksalhaftes wie kontingente Befruchtungsvorgänge eingreifen und traditionelle genealogische Zusammenhänge, das „herkömmliche Verhältnis von sozialer Elternschaft und biologischer Abstammung“ (Habermas 2001, S.23), verändern. Was bedeutet es für familiale sozialisatorische Interaktionsstrukturen und personale Selbstverhältnisse von Heranwachsenden, wenn neues Leben mithilfe von medizinisch-technischer Assistenz oder mithilfe von Biotechnologie (genetischer Embryo) entsteht? Was folgt daraus, wenn das, was vorher Zufall war in den Bereich des Verfügbaren transferiert wird, wir es mit Verdinglichungsprozessen in einem Bereich zu tun haben, der dem Eingriff des Menschen bisher entzogen war, wenn das von „Natur aus Gewordene“ (ebd. S. 83) jetzt das „Hergestellte“ (ebd.) wird, wenn sich die „Grenze zwischen Personen und Sachen“ (ebd., S. 30) verschiebt? Das sind Fragen, die uns möglicherweise auch noch weiter in Zukunft beschäftigen werden. Aber wer kann das genau wissen und lakonisch dazu Habermas: „Warum sollte sich der Mensch nicht mit einem achselzuckenden ‚So what?‘ auch daran gewöhnen? Nach den narzisstischen Kränkungen, die uns Kopernikus und Darwin mit der Zerstörung unseres geozentrischen und unseres anthropozentrischen Weltbildes zugefügt haben, werden wir der dritten Dezentrierung unseres Weltbildes – der Unterwerfung von Leib und Leben unter die Biotechnik – vielleicht mit größerer Gelassenheit folgen“ (S. 95). Doch derzeit kann mit Blick auf den klinischen Beratungsbedarf und aktuelle Studien davon keine Rede sein.
Wir laden Wissenschaftler/innen und im Feld der Professionen Beschäftigte ein, die zu bzw. mit Familien arbeiten, die mithilfe von reproduktionsmedizinischen Verfahren entstanden sind (homologe/heterologe Samenspende, IVS, ICSI, Präimplantationsdiagnostik, Eizellspende, Embryonenspende) und/oder über bzw. mit Kindern/(jungen) Erwachsenen arbeiten, deren vorgeburtlicher Lebensanfang durch eine „technisierte Urszene“ (Winnicott 1953/2000, S. 174) bestimmt ist. Das letzteres nicht trivial ist für interpersonale Beziehungen und Selbstverhältnisse belegen Befunde.
Die Vorträge sollen sich schwerpunktmäßig einem der Blöcke zuordnen und die dort aufgeworfenen Fragen integrieren:
A) „Multiple Elternschaft“ (Bergold et al. 2017) und ihre Folgen für Familienbildung und familiale sozialisatorische Interaktionsstrukturen
Mit der Bezeichnung sind Familien gemeint, in denen mehr als zwei Eltern, mehr als ein Mann und eine Frau, die in der Kernfamilie Vater und Mutter sind und gemeinsam gezeugte Kinder haben, an der Familienbildung beteiligt sind. Andere Beschreibungen für Eltern-Kind- Konstellationen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass das, was „traditionell zusammengehörig gedacht wird [hier getrennt ist]: biologische, genetische, soziale und rechtliche Elternschaft“ (ebd.), sind: „gespaltene Elternschaft“, „entkoppelte“, „pluralisierte“, „fragmentierte“ oder „segmentierte Elternschaft“. Unabhängig von der begrifflichen Einfassung ist allen diesen Familien gemeinsam, dass sie Resultat eines Herstellungsprozesses sind, bislang Unverfügbares (vgl. auch Rosa 2022) – wie Elternschaft – wird durch Fortschritte in der Reproduktionsmedizin verfügbar gemacht; dass „Geburt ohne vorherige Sexualität (Ofer, 2020, S. 69)“ (Oelsner/ Lehmkuhl 2022, S. 24) stattfindet, dass andere, also eine dritte, vierte, manchmal auch fünfte Person am Familienbildungsprozess beteiligt sind und dass Identitätsbildungsprozesse von den Heranwachsenden in diesen Familien auf der Grundlage einer „multiplen genetischen Mitgift“ (ebd., S. 12) zu gestalten sind.
Vorträge, die im Kern das Thema der Familienbildung und die familialen Folgen wählen, sollten wünschenswerterweise Zusammenhänge erklären, die mit folgenden Fragen verbunden sind: Wie gelingt es Eltern unter der Bedingung von ‚multipler Elternschaft‘ die Triade ins Werk zu setzen? Was bedeutet es für die elterliche Paardynamik und für die Eltern-Kind-Beziehungen eine Familie ohne zweigeschlechtliche Fortpflanzung, ohne vollzogene Sexualität gegründet zu haben?22 Wie gestalten Männer als Väter und Frauen als Mütter ihre Eltern-Kind-Beziehung (Belege, dass es da Unterschiede gibt lassen sich bei Oelsner/Lehmkuhl 2022 finden) und welche Folgen hat die technische Reproduzierbarkeit für das Elternpaar? Wie gehen Eltern damit um, über „reproduktionsmedizinische Methoden der Machbarkeit“ (ebd., S. 65) in das Genogramm ihrer Kinder eingegriffen zu haben und so z.B. festlegen, dass sie die genetische Mutter nicht kennenlernen können (so im Falle einer Eizellspende), dass der Vater ein Namenloser ist (so bei einer anonymen Samenspende) oder dass die genetischen Eltern und die biologische Mutter unbekannt sind (so im Falle von Embryonenspende und Leihmutterschaft)?
B) Identitätsbildungsprozesse von Heranwachsenden
Vorträge, die im Kern das Thema der Identitätsbildung, personale Selbstverhältnisse und autonome Lebensführung diskutieren vor dem Hintergrund multipler Elternschaft und/oder eines technisch vermittelten Lebensanfangs sollten wünschenswerterweise Zusammenhänge erklären, die mit folgenden Fragen verbunden sind: Welche empirischen Folgen multipler Elternschaft lassen sich aus forschender, therapeutischer oder begleitender Perspektive für die Identitätsbildung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausmachen? Gibt es typische Reaktionsweisen von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf nämliche familiäre Konstellationen? Welche entwicklungspsychologischen Folgen hat es, wenn Kinder in einem Rahmen aufwachsen, der dadurch bestimmt ist, dass ihre Zeugung über eine technisierte Prozedur zustande kam und ihre (sozialen) Eltern manchmal auch Fragen der genetischen Abstammung nicht eindeutig beantworten können (oder wollen)? Reicht der Verlust der „naturwüchsigen Unverfügbarkeit“ (Habermas 2001, S. 32) bis in das Selbstverhältnis einer Person hinein? Was bedeutet es für die Leiberfahrung und das Körperempfinden, wenn in kontingente Befruchtungsvorgänge eingegriffen wird, Vorgeburtliches wie eine Sache behandelt wird (vgl. ebd., S. 87ff.)? Mit welchen Strategien, manchmal auch unorthodoxen Mitteln, reagieren Heranwachsende, wenn Eltern mittels medizinisch-technischer Fortpflanzung ihre Entscheidungsmacht in einen Bereich ausdehnen, der bei üblicher Schwangerschaft ihrer Verfügbarkeit entzogen ist? Hat es Folgen für die autonome Lebensführung, wenn Kinder keinen „unverfügbaren Anfang“ haben? Was machen „Spenderkinder“ ab dem 16. Lebensjahr, wenn sie gemäß des 2018 novellierten Samenspenderregistergesetz Auskunft über ‚ihren‘ Samenspender erhalten können? Wie gehen die (sozialen) Elternteile mit dem Wunsch des Kindes (und ggf. dem unbekannten Dritten) um? Gibt es weitere Normalisierungserwartungen, etwa nach dem Eintrag des Vaters in die Geburtsurkunde (Klenke-Lüders 2022, S. 81)?
C) Weitere technisch mögliche Phänomene und etwaige darauf bezogene sozial wie rechtliche Veränderungen: Alleinmutterschaft (solo mothering), social freezing bzw. Eizellvorsorge; gesellschaftlicher Wandel der Sicht auf Eizellspende und Leihmütter etc.
Auch weitere reproduktionsmedizinisch mögliche Interventionen können in Vorträgen aufgegriffen werden: Was sind die Besonderheiten der Alleinmutterschaft? Welche Erfahrungen aus der Beratungspraxis während der Begleitung reproduktionsmedizinischer Interventionen liegen vor? Wie wird social freezing genutzt? Wie gehen Reproduktionsmediziner/innen mit den empirischen Folgeproblemen des social freezing bzw. der Eizellvorsorge (aber auch etwaiger anderer Eizellen) um? Was sind die rechtlichen, was die ethischen Sichtweisen? Wie gehen (junge) Frauen mit der Möglichkeit des social freezing um? Hat diese Möglichkeit auffordernden Charakter für sie etc.?
Schließlich: Rechtssoziologisch zeichnet sich ein Wandel der Rechtsprechung im Umgang mit der Leihmutterschaft ab. Höhere Rechtsinstanzen haben wiederholt mögliche ‚indirekte Sanktionen‘ der Amtsgerichte gegen deutsche Auftraggeber von Leihmüttern (inkl. Eizellspende) im Ausland aufgehoben. Zeichnen sich hier divergierende rechtliche Deutungsmuster oder ein grundsätzlicher Wandel der Rechtsprechung ggf. auch der gesetzlichen Grundlagen im Umgang mit den ausgedehnten technischen und sozialen Möglichkeitsräumen ab? Welche Tendenzen sind diesbezüglich seitens der beteiligten Bundesministerien auszumachen?
Das Gemeinsame der in den Vorträgen diskutierten Ergebnisse und Erfahrungen ist eine empirische Grundlage, die ihren Ausdruck im fallorientierten Forschen oder fallbezogenen Handeln im Feld der Professionen haben kann. Theoretische Bezüge, Konzeptbildungen als auch generalisierende Schlussfolgerungen, die eine Theorie der Familie betreffen, werden erwartet. Wir begrüßen wissenschaftliche Arbeiten, die in Generationenzusammenhängen denken, mit Sequenzanalysen (Oevermann) bzw. liny-by-line Analysen (Strauss) arbeiten und familiensoziologische Analysen verschränken mit psychoanalytischen Konzepten, Konzepten der Sprachtheorie und der Sexualwissenschaft. Als gewinnbringend betrachten wir auch Analysen, die eine Verbindung von (Familien)Soziologie, Soziolinguistik, Psychoanalyse und Sexualwissenschaft herstellen, um Tiefenstrukturelles zu erfassen.
Wir laden Wissenschaftler/innen aus den Disziplinen der Soziologie, der Psychologie, der Ethnologie sowie Sexualwissenschaftler ein als auch aus dem Feld der Professionen Mediziner, Psychoanalytiker, Kinder-, Jugend- und Familientherapeuten, systemische Beraterinnen und Berater, auch Ethiker und Juristen sich an der Tagung mit einem Vortrag zu beteiligen.
Für die einzelnen Vorträge sind 30 Minuten Vortragszeit und 30 Minuten Diskussion vorgesehen. Eine Publikation der Tagungsergebnisse ist geplant. Die Tagung findet am 17./18. November 2023 auf dem Campus der FernUniversität in Hagen statt. Exposés in einer max. Länge von 5000 Zeichen, ergänzt durch kurze biobibliographische Angaben sind einzureichen bis zum 11. Juni 2023 an:
E-Mail: kontakt-nqf
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Interdisziplinäre Tagung: „Die Ökonomisierung des Sozialen - Vergesellschaftungsdynamiken in der Familie“
(12./13. November 2021; FernUniversität in Hagen, digitale Veranstaltung, Organisation: Lehrgebiet der Ernsting’s family-Stiftungsprofessur Mikrosoziologie)
Link zum Programm der Online-Tagung (PDF, 746KB)
Familie ist schon lange kein Ort mehr, der sich selbst überlassen ist. Spätestens mit der Auflösung des „ganzen Hauses“ (Brunner 1966) im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert und der Ausdifferenzierung der Zwei-Generationen-Familie aus größeren Lebenszusammenhängen, die bestimmt waren durch die Einheit von Produktion und Reproduktion, ist der Beginn eines Prozesses auszumachen, in dem die Familie immer wieder staatlichen Zugriffen in Form von Gesetzen und disziplinierenden Maß-nahmen ausgesetzt ist. Eine erste „Kodifizierung des Familienrechts“ (Hajek 2020, S. 93), und damit auch der Beginn einer zielgerichteten „staatlichen Einflussnahme“ (ebd.), erfolgt durch das 1794 eingeführte Preußische Allgemeine Landrecht (PrALR) und 1804 durch den Code civil.
Diese Entwicklung einer zunehmenden Verstaatlichung von Familie ist nicht zu trennen von der Herausbildung einer familialen Privatsphäre, die erst den Stoff bildet, an dem infolge familienpolitische Regulierungen ansetzen, um am Markt und am Staat ausgerichtete Interessen durchzusetzen. Normative Familienleitbilder machen Vorgaben für das Zusammenleben in Familien, die nicht an familienspezifischen Besonderheiten orientiert sind, sondern immer schon verknüpft sind mit Zielen der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Blicken wir auf die bundesrepublikanische Nachkriegsgeschichte als 1953 das Familienministerium gegründet wurde, dann galt von da an lange Zeit bis in die 1960er Jahre hinein die Norm der patriarchalen Kleinfamilie. Dieses „Referenzmodell“ (Gerhard 2004), das den Vater als Ernährer und die Mutter als Hausfrau vorsah, hatte weder mit der Wirklichkeit der letzten Kriegsjahre etwas zu tun, wo viele Frauen erwerbstätig waren, noch mit der der Nachkriegszeit, die bestimmt ist durch eine hohe Scheidungsquote. Mit der arbeitsteiligen Ernährer-Hausfrauen-Ehe war aber die gesellschaftliche Sozialerwartung verbunden, auf diesem Wege den Aufbau einer demokratischen Gesellschaftsordnung leisten zu können. Die bundesdeutsche Familienpolitik, das beginnt sich hier abzuzeichnen, rekurriert immer auf Problemlagen außerhalb des Kontextes von Familie. Im historischen Verlauf zeichnet sich das wie folgt ab: Zur Zeit des Wirtschaftswunders und der Vollbeschäftigung (bis Mitte der 70er Jahre) erfolgt eine Abwendung vom patriarchalen Familienleitbild der Nachkriegszeit. Es ist die Geburtsstunde der Vereinbarkeits- und Gleichstellungspolitik. Ins Zentrum rückt die erwerbstätige Mutter. Mit der dann einsetzenden Wirtschaftskrise und der steigenden Arbeitslosigkeit (ab Mitte der 70er Jahre) wird erneut bei den Frauen angesetzt. Familienpolitische Maßnahmen wie das Erziehungsgeld und die Anerkennung von Pflege- und Kindererziehungszeiten sollen die Mütter wieder verstärkt auf den Binnenbereich der Familie verpflichten und sie vom Arbeitsmarkt entbinden. Bis zu Beginn der 2000er Jahre hat sich daran nicht allzu viel geändert, auch wenn die Familienpolitik sich der zunehmenden Diversifizierung von Familienformen hin öffnet (zum Beispiel 2001 durch Einführung des LPartG), Teilzeitarbeitsmodelle durch die Einführung eines Rechts auf einen Kindergartenplatz für Kinder ab 3 Jahren ermöglicht, sog. Vätermonate einführt und die Ernährerlöhne abschafft. Das normative Leitbild bleibt aber die arbeitsteilig organisierte Familie, wenn auch jetzt mit einer in Teilzeit arbeitenden Mutter.
Zu einem „Paradigmenwechsel in der Familienpolitik“ (Hajek 2020) kommt es ab dem Jahr 2002. Es treten Gesetze in Kraft, die den Prozess einer De-Familialisierung einleiten. Das TAG (2005), das BEEG (2007) und das KiföG (2008) befördern den Ausbau und Aufbau zahlreicher außerhäuslicher Betreuungseinrichtungen (Kitas, Ganztagsschulen etc.) und die Einführung des als Lohnersatzleistung konzipierten Elterngeldes, das kürzer als das Erziehungsgeld gezahlt wird, soll die Müttern zeitnah nach der Geburt des Kindes wieder in den Arbeitsmarkt reintegrieren. Diese Familienpolitik, die vorsieht, Mütter von der Familienarbeit abzuziehen und Kinder in Betreuungseinrichtungen platziert, nimmt der Familie die Grundlagen, um als Familie zusammenzuleben und für eine entwicklungsangemessene Sozialisation des Nachwuchses zu sorgen. Denn dazu braucht es Zeit, die sich nicht nach Maßstäben von „Quality Time“ bemessen lässt, der Anwesenheit eines Elternpaares, das in den Strukturen der sozialisatorischen Triade den Autonomiebildungsprozess ins Werk setzt, und auch einer gesicherten materiellen Grundlage, um entlastet von prekären Arbeitsverhältnissen Elternschaft, die immer auch mit krisenhaften Lern- und Erfahrungsprozessen der Eltern verbunden ist, zu ermöglichen. Die erwerbszentrierte Familienpolitik, auch die zunehmende Entgrenzung der Arbeit, hohe Mobilitätsanforderungen, prekäre Beschäftigungsverhältnisse lässt Familie heute zu einer riskanten Angelegenheit werden (Funcke & Bachmann 2020). Die entfamilialisierenden Leistungen und Bedingungen gehen aber gleichzeitig einher mit einer zunehmenden Verantwortungszuschreibung; die Pandemiekrise ausgelöst durch das Corona-Virus hat das noch einmal deutlich gezeigt. Insbesondere nach dem PISA-Schock im Jahr 2001 werden die Familien verstärkt in die Pflicht genommen. Sie sollen solche Bildungs- und Lernprozesse unterstützen, wie sie in curricular organisierten Bildungs-einrichtungen (Kindergarten, Vorschule, Schulen etc.) im Zentrum pädagogischer Zuwendungsformen stehen. Die Folge ist, dass öffentliche Bildungseinrichtungen sich auf Augenhöhe mit Familie sehen und völlig verkannt wird, zunehmend auch von den Eltern selbst (vgl. Liebermann & Muijsson 2020), dass Familie eine Lebensform ist, die anderen Logiken als denen von öffentlicher Bildung und Erziehung, Arbeit und Wirtschaft, Macht und Staat folgt.
In Anbetracht einer zunehmenden Verstaatlichung von Familie stellt sich nun die Frage, wie es um die Autonomie der Familie bestellt ist. Familienpolitische Interventionen, mit denen ganz andere Handlungsprobleme als die von Familien gelöst werden sollen (z. B. demografische, erwerbsbezogene oder bildungspolitische), stehen im Widerspruch zu den Bedingungen die Familien benötigen, um Kindern einen geeigneten Entwicklungsrahmen zu bieten. Im Zentrum der interdisziplinären Tagung, auf der Soziolog*innen, Gesundheitswissenschaftler*innen, Bildungswissenschaftler*innen, Erziehungswissenschaftler*innen und Politikwissenschaftler*innen vortragen werden, stehen empirische Arbeiten aus dem Bereich der qualitativen Familienforschung. Das Gemeinsame der Studien, die auf der Tagung diskutiert werden sollen, ist, dass sie, wenn auch angeleitet durch unterschiedliche disziplinspezifische Forschungsfragen, Theorietraditionen, die immer schon über ein Konzept der Autonomie der Familie verfügen (Mount 1982, Schelsky 1953), kritisch hinterfragen. In den Beiträgen der Tagung sollen zeittypische Entwicklungen und Phänomene in Familien einerseits beschrieben werden und andererseits Befunde rückgebunden werden an theoretische Überlegungen, die immer schon von einer Unhintergehbarkeit der autonomen Praxis in Familien ausgehen.
Diese Tagung bildet auch den Auftakt für die Gründung eines Netzwerkes „Qualitative Familienforschung“.